“In der Krise beweist sich der Charakter”, sagte schon Altkanzler Helmut Schmidt. Worte, die – obwohl damals auf die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise von 2007 bezogen – heute wahrer erscheinen, als jemals zuvor. Denn die gesellschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise sind nicht nur allgegenwärtig, sondern vor allem äußerst vielseitig. Medien berichten von steigenden Reproduktionszahlen und potenziellen Impfstoffen, von Insolvenzen und Umstrukturierungen, von langfristigen Problemen und kurzfristigen Lösungen. Und während sich die nationale Aufmerksamkeit weiterhin auf wirtschaftliche Entwicklungen und landesweite Infektionszahlen fokussiert, möchten wir den Moment nutzen, und die Geschichten unserer Mitmenschen erzählen, deren Lebenssituationen aufgrund von Covid-19 buchstäblich auseinandergerissen wurden.
Es sind Szenen, die sich in den letzten Wochen an den Landesgrenzen der Bundesrepublik abspielen, die wirken, als stammten sie aus einer anderen Zeit. Von Polen bis in die Schweiz, von Konstanz über Nürnberg, bis hin zur tschechischen Grenze: Corona macht vor der Liebe nicht halt, doch die Maßnahmen der Regierung tun dies genauso wenig. Eine Tatsache, die ebenso viele Meinungen hervorruft, wie sie Fragen aufwirft. Ein Bericht über eingezäunte Zwischenmenschlichkeit, Begegnungen an Grenzübergängen und das Konzept der Liebe in Krisenzeiten.
Grenzerfahrungen: Begegnungen zwischen Deutschland und der Schweiz
Es ist der wohl berühmteste Grenzübergang der Bundesrepublik, zumindest im vergangenen Monat. Ein kleiner Drahtzaun zwischen Konstanz und Kreuzlingen markiert diese besondere Stelle – irgendwo zwischen Deutschland und der Schweiz – , die innerhalb der letzten Wochen zur wohl unromantischsten Speeddating-Location aufgestiegen ist, die man sich nur vorstellen kann. Doch was klingt, wie der Anfang einer allzu schlechten Hollywood-Romcom, wurde für internationale Paare an der schweizerischen Grenze zuletzt bittere Realität.
Es ist schon einige Jahrzehnte her, dass der am Bodensee gelegene Grenzübergang zur Schweiz überhaupt als solcher zu erkennen war. Eine kleinere Grünfläche am Wegesrand, Baumstämme, Spaziergänger, Kinderwägen – und mittendrin: Ein künstlich aufgestellter Absperrzaun, brusthoch und lückenlos, schlichtweg unüberwindbar. Die Szenen, die sich seit Beginn des landesweiten Lockdowns auf beiden Seiten der Absperrung abspielen, wirken unecht, trostlos und beinahe ein wenig beängstigend.
Junge und ältere Paare versammeln sich auf beiden Seiten des Zaunes, die Finger in den kleinen Zwischenräumen des Drahtes verhakt, mit traurigen, teils ungläubigen Mienen. Einige tauschen Briefe oder Karten aus, andere imitieren ein Picknick. Intime Minuten der Zweisamkeit, begleitet von Sicherheitspersonal und Fernsehkameras, und doch getrennt durch eine Krankheit, die Europa überrollt.
Quasi über Nacht veränderte Covid-19 das Leben für nicht verheiratete Paare im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet. Die Ausgangsbeschränkungen, die auf beiden Seiten der Ländergrenze ausgerufen wurden, verhinderten plötzlich Besuche, die über Jahre hinweg den Alltag bestimmten. „Weil wir es verpasst haben, vorher zu heiraten”, kommentiert der in Konstanz ansässige Robert die Situation gegenüber Deutschlandfunk Kultur. “Wir dürfen uns nicht einmal berühren, das ist schon ein wenig absurd”. Seit Tagen konnte Robert seine langjährige Partnerin Elvira nicht berühren, meist sehen sie sich nur über das Handy. “Weil er Deutscher ist, und ich Schweizerin“, sagt sie. “Man würde gemeinsam zu Hause sein. Aber man darf nicht.”
Geschichten wie diese sind seit Beginn der Bekämpfungsmaßnahmen gegen Covid-19 keine Seltenheit. Nach Informationen des Südkuriers wurde einem Mann in Kreuzlingen mit Bußgeld gedroht, als er seine in Konstanz lebende Mutter mit Lebensmitteln versorgte. Derselbe Artikel berichtet von einem Ehemann aus Bayern, dem nach vierstündiger Fahrt am Konstanzer Grenzübergang der Pass entnommen wurde, als er eine Einreisebewilligung für den Besuch seiner Schweizer Frau anfragte. Die beiden seien seit nunmehr 21 Jahren verheiratet. “Leider hat der Schutz der Ehe keine Priorität. Unser Eheversprechen, uns in schweren Zeiten zu unterstützen, wurde durch Verordnungen einfach so außer Kraft gesetzt. Es macht mich wütend und sprachlos.”
Verständnis auf beiden Seiten der Grenze
Einige Kilometer weiter westlich werden die Töne bereits etwas sanfter, und das trotz der erzwungenen Trennung von Liebespaaren im Grenzgebiet. Der Südwestrundfunk berichtete unlängst über die Geschichte von Sarah und Pascal, einem Pärchen zwischen Freiburg und Basel, durch die Grenzschließungen getrennt – und das für mehrere Wochen. Doch zwischen den Zeilen ihrer aktuell ausschließlich virtuell funktionierenden Liebe liest sich zumindest auch ein tiefergehendes Verständnis für die Maßnahmen beider Regierungen heraus – und die dabei stets mitklingende Willkür, die nur noch schwerer einzufangen ist, im Angesicht von Länder- statt Inlandsgrenzen.
Von den Begegnungen am Grenzzaun in Konstanz hielten die beiden sich lieber fern, zu absurd wirkte das Szenario auf das junge Paar. “Wir haben das erst vor ein paar Tagen erfahren, dass das möglich ist. Dann habe ich danach im Internet gesucht und gesehen, dass da Zäune stehen mit zwei Meter Abstand und man sich kaum sieht. Dann haben wir das kurz besprochen und entschieden, dass das im Endeffekt nur Frust auslöst und haben darauf verzichtet”, werden die beiden zitiert. Das Statement des Paares beleuchtet die Widrigkeiten der vergangenen Wochen und Monaten, die sich wohl niemals vollständig einfangen lassen. Denn so tief das eigene Verständnis, die individuelle Weitsicht im Rahmen der Covid-Pandemie auch greifen mag: Geht Sehnsucht nach einem geliebten Menschen nicht irgendwann tiefer?
Beispiel: Beziehungspause für Pendler an der tschechischen Grenze
Einige Stunden Autofahrt später, irgendwo im Grenzgebiet zwischen Deutschland, Tschechien und Polen. Der tschechische Leiter eines Frauenhauses Robert Prade hatte wohl Glück im Unglück – wenn man das so nennen kann. Als Tschechien Mitte März einen Einreisestopp für den deutschen “Risikostaat” ausrief, titelten die Medien bereits von einem zweiten “Eisernen Vorhang” für Liebespaare im Grenzgebiet. Die Region um das deutsch-polnisch-tschechische Dreiländereck ist geprägt von diversen interkulturellen Beziehungsmodellen, die in mühsamer Kleinarbeit über Jahre hinweg zu einem gemeinsamen Familienleben zusammengesetzt wurden.
Zwar arbeitet Prade in der tschechischen Stadt Liberec als Sozialarbeiter, seinen Wohnsitz verlegte er jedoch bereits vor mehr als einem Jahrzehnt zu Frau und Kindern ins sächsische Zittau, was einen tagtäglichen Arbeitsweg von ca. 25 Kilometern bedeutet. Doch dann passierte es: von einem auf den anderen Tag waren die Grenzen plötzlich dicht, die Ein- beziehungsweise Ausreise untersagt, und eine potenzielle Heimkehr nach Feierabend mit mindestens vierzehntägiger Quarantäne verbunden. Erst in letzter Sekunde ermöglichte Tschechien eine Ausnahmegenehmigung für pendelnde Sozialarbeiter und Pflegepersonal: Aufatmen für die kleine Familie, die der räumlichen Trennung bereits ins Auge gesehen hatte, auf unbestimmte Zeit. Eine Geschichte mit rechtzeitigem Happy End – aber eben auch nur eine von vielen.
Fazit zu Grenzbegegnungen in Krisenzeiten
Es sind beispielhafte Geschichten, die nun in den Medien kursieren. Geschichten von Verständnis und Zuversicht, von rücksichtsvollem Miteinander und Liebesbekundungen aus der Ferne. Aber es sind eben auch Geschichten von Unmut und Frustration, von Wut und Ohnmacht im Angesicht dieser Zensur der Liebe. Es ist nachvollziehbar, wenn sich die Ablehnung der Betroffenen im Angesicht der Grenzbeamten zuspitzt, für sie die Personifikation der Willkür. Dabei gründen die Widrigkeiten der international stark variierenden Ausgangsbeschränkungen und Einreisebestimmungen wohl eher auf politisch-logistischen Faktoren, als auf kaltherziger Kalkül vonseiten der Landesregierungen.
Der Hoffnungsschimmer am Horizont zumindest ist nun schon seit einigen Tagen sichtbar: Die internationale Reisewarnung der Bundesregierung wird voraussichtlich zum 14. Juni aufgehoben, erste Hotels und Gastronomiebetriebe öffnen bereits wieder ihre Türen, und auch das Passieren der Ländergrenzen wird mit jedem Tag zugänglicher. Doch es kursieren vermehrt auch Studien in den Medien, die der Bevölkerungsbereitschaft für Einschränkungsmaßnahmen im Zuge der Covid-19-Pandemie in den kommenden Wochen dramatisch sinkende Zahlen prognostizieren – ein alarmierende Wendung, an der auch die mediale Berichterstattung maßgeblich beteiligt sein soll. Ein Zusammenhang mit oben erwähnten Medienberichten zu Grenzerfahrungen von Liebespaaren liegt hier natürlich auf der Hand, weswegen wir nachfolgend gerne festhalten möchten:
Dieser Artikel erzählt die persönlichen Geschichten von Einzelpersonen. Es liegt uns fern, politische Maßnahmen spezifischer Landesregierungen zu bewerten. Entsprechende Quellenangaben sind im Text hinterlegt.
Ihr selbst wohnt in einer der im Artikel erwähnten Grenzgebiete, und habt in den vergangenen Wochen vergleichbare Schicksale erlebt? Seid auch Ihr von Eurem Partner, Euren Kindern oder anderen geliebten Menschen getrennt worden, oder musstet auf die hier beschriebenen Grenzbegegnungen zurückgreifen? Teilt Eure Geschichte mit uns und der Community in den Kommentaren, oder hinterlasst uns eine Nachricht unter [email protected].