Seit den Abstürzen von gleich zwei Flugzeugen des Typs 737 MAX steht der amerikanische Flugzeugbauer Boeing massiv unter Druck. Neben der Kritik an der Genehmigung des Flugzeugtyps und den fehlenden Schulungsmöglichkeiten für Piloten, wurde auch der Umgang mit den Unglücken zuletzt stark bemängelt.

So ist es wenig verwunderlich, dass bereits die ersten Angehörigen Klagen gegen den Flugzeugbauer vorbereiten. Und auch einige Kunden von Boeing denken wohl über rechtliche Schritte nach. Droht dem US-Flugzeugbauer jetzt also eine Klagewelle?

Zum Hintergrund der Boeing 737 MAX

Als Boeing im Jahr 2010 eine Modernisierung der beliebten 737 Modelle ankündigte, waren die Erwartungen groß. Seit jeher galten die Flugzeuge der 737 Familie als zuverlässige Maschinen auf der Kurz- und Mittelstrecke. Durchschnittlich sind weit mehr als 1.000 Flugzeuge der Familie auf der ganzen Welt gleichzeitig in der Luft. Damit ist die Boeing 737 eines der erfolgreichsten Flugzeuge aller Zeiten. An genau diesen Erfolg sollte auch die neue 737 MAX Reihe anknüpfen.

KLM Boeing 737 Amsterdam Schiphol

Mit neuen Triebwerken sollten die Modelle wirtschaftlicher werden, durch verschiedene Versionen sollten sie vielseitiger werden und mehr Passagiere befördern können. Bei den Airlines fand das Anklang. Boeing konnte nur unwesentlich weniger Bestellungen für die MAX Modelle verbuchen als der Konkurrent Airbus für seine A320neo Modelle, die nur etwas früher angekündigt worden waren. Doch sorgte genau dieser zeitliche Unterschied dafür, dass Airbus bereits Bestellungen verbuchen konnte, bevor Boeing diese überhaupt annehmen konnte.

Zeitlicher Druck führte zu schwerwiegenden Fehlern

Bei Boeing bemühte man sich deshalb, die neuen MAX Modelle schnellstmöglich freigeben zu können. Eine Zertifizierung wurde umgehend eingeleitet. In den Vereinigten Staaten ist für die Zertifizierung von Flugzeugen in großen Teilen die Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration (FAA) zuständig. Wohl auf Grund des großen Drucks und der wirtschaftlichen Aussichten wiesen FAA-Manager Sicherheitsingenieure der Behörde an, einige der Sicherheitsbewertungen Boeing selbst zu überlassen. Die Resultate der Tests sollten dann einfach genehmigt werden. So sollte der Zertifizierungslauf merklich beschleunigt werden. Dabei unterliefen laut einem Bericht eines erfahrenen Luftfahrtexperten schwerwiegende Fehler.

Nur etwas mehr als ein Jahr seit der Auslieferung der ersten Boeing 737 Max an Lion Air folgte die Tragödie. Ein Flugzeug von Lion Air, der Fluggesellschaft, die als erste eine MAX erhielt, stürzte kurz nach dem Start in Indonesien ab und riss damit alle Passagiere und die Crew aus dem Leben. Erste Ermittlungen ergaben Probleme mit internen Systemen des Flugzeugs.

Schuld der Piloten gilt als unwahrscheinlich

Noch bevor die Aufarbeitung des Vorfalls abgeschlossen war, kam es zu einem zweiten folgenschweren Unglück mit einer Boeing 737. Eine Ethiopian Airlines Maschine des Typs stürzte kurz nach dem Start in Äthiopien ab. Erneut verloren zahlreiche Menschen ihr Leben. Schnell geriet wieder das neue System an Bord der MAX-Modelle ins Visier. Doch auch ein Fehlverhalten der Piloten ließ sich lange Zeit nicht ausschließen. Erst Anfang April schlossen die äthiopische Verkehrsbehörde und das National Transportation Safety Board ihren Vorbericht zu dem Vorfall in Äthiopien ab.

Ethiopian Airlines Boeing 737 700

Daraus geht hervor, dass die Piloten keine Schuld traf. Diese hätten jene Handlungsschritte vorgenommen, die Boeing vorgibt und die von der FAA autorisiert wurden. Erneut rückte ein Systemfehler ins Zentrum der Ermittlungen. Die Fehlfunktion des neuen MCAS gilt mittlerweile als wahrscheinliche Ursache für beide Abstürze der Boeing 737 MAX.

MCAS lieferte falsche Werte und gilt als wahrscheinliche Absturzursache

Das System wurde speziell für die größeren Versionen der Boeing 737 MAX entwickelt. Diese verfügen über größere Triebwerke, die höher angebracht sind als bei dem Vorgängermodell. Die Positionierung der Triebwerke kann in einigen Situationen zu einer Beeinflussung des Flugverhaltens führen. Damit ein Störmungsabriss verhindert werden kann, wird die Nase der Boeing 737 MAX in bestimmten Situationen automatisch durch das MCAS nach unten gedrückt. Hierzu kann das System das Höhenruder entsprechend trimmen. Im Fall der Abstürze geht man zurzeit davon aus, dass das MCAS falsche Werte vom Anstellwinkel-Sensor der Maschinen erhalten hat und in Folge gefährliche Korrekturmanöver einleitete. Dass nur ein einziger Sensor zu einem Ausfall des gesamten Systems führen kann, ist eigentlich unzulässig.

So war es wenig verwunderlich, als man sich dazu entschied, die Boeing 737 MAX nicht mehr abheben zu lassen. Seitdem stehen alle Flugzeuge des Modells am Boden. Abheben dürfen sie erst wieder, wenn Boeing ein Update für das MCAS präsentiert und aufgespielt hat. Wann es soweit sein wird, steht derzeit noch nicht fest. Boeing verspricht aber, dass es nach dem Update nie mehr zu einem solchen Unglück kommen kann. Vielmehr werde die Boeing 737 MAX dadurch zu einem der sichersten Flugzeuge überhaupt.

Airlines leiden unter Verlusten

Die Airlines stellt das Grounding der Maschinen indes vor Probleme. Schließlich sind die Maschinen bei vielen Fluggesellschaften fest eingeplant gewesen. Sie irgendwo stehen zu lassen ist nicht nur deshalb unwirtschaftlich, sondern auch weil für Flugzeuge am Boden teils hohe Standgebühren anfallen. Dazu kommt, dass die Airline teuer andere Maschinen anmieten müssen, um den Flugplan einhalten zu können. Folglich überrascht es nicht, dass einige Airlines rechtliche Schritte gegen Boeing prüfen und ihre Anwälte in Stellung bringen. Die Frage, ob man Boeing überhaupt verklagen kann, klärte schon Anfang des vergangenen Monats der amerikanischer Luftfahrtrechtler S.V. Dedmon.

norwegian boeing 737 800 start

Mit Norwegian gibt es auch schon den ersten Kandidaten, der bereit ist, rechtlich gegen Boeing vorzugehen. So gab das Unternehmen bekannt, Ausgleichszahlungen für die am Boden stehenden Boeing 737 MAX und den entgangenen Gewinn zu fordern. Es ist allgemein unüblich, dass Unternehmen solchen Forderungen einfach nachkommen. Ein Prozess erscheint insoweit unausweichlich. Zudem dürfte Norwegian nicht die einzige Airline bleiben, die solche Forderungen gegen Boeing geltend machen wird. Auch Lion Air und Ethiopian Airlines sind mögliche Kandidaten für eine Klage und haben bereits Andeutungen in diese Richtung gemacht.

Prozesse dürften noch auf sich warten lassen

Bis es zu den Prozessen kommt, könnte es noch etwas dauern. Das hängt zwangsläufig damit zusammen, wann die Maschinen wieder abheben können. Schließlich lässt sich erst dann sagen, wie viel der Ausfall der Maschinen jede Airline tatsächlich gekostet hat. Wir dürfen aber damit rechnen, dass die Prozesse in den USA stattfinden werden. Das ist nicht nur Boeings Heimat, sondern die USA sind auch allgemein für höhere Ausgleichsforderungen bekannt als man sie etwa aus der EU kennt. Auch wenn solche Prozesse oft weniger spektakulär sind, als sie in Filmen und Serien gerne dargestellt werden, kommt es in Prozessen in den USA deutlich mehr auf den rechtlichen Beistand an als es in anderen Ländern der Fall ist.

Entsprechend bereiten sich die Anwälte bei Boeing derzeit wohl intensiv auf solche Prozesse vor und auch bei den Airlines dürften entsprechende Prüfungen bereits begonnen haben. Schließlich entscheidet sich hier später, ob Boeing Ausgleichszahlungen in Millionenhöhe zahlen muss oder ob der Flugzeugbauer ohne Zahlungsverpflichtungen aus den Prozessen herauskommt.

Welche Schuld trifft Boeing?

Im Laufe der Prozesse dürfte dabei vor allem eine Frage eine übergeordnete Rolle spielen: Hat Boeing alles dafür getan, die Flugzeuge sicher zu machen? Dazu zählt nicht nur, ob Boeing ein flugfähiges Etwas ausgeliefert hat. Auch die Bereitstellung entsprechender Schulungsunterlagen für Piloten, das Bereitstellen von Aus- und Verbesserungen und Updates spielen hierbei eine Rolle.

Luftfahrtrechtler Dedmon führt hierzu einen Grundsatz an, der sich auch auf unser deutsches Rechtssystem übertragen lässt und wählt dazu das Thema Auto. Wurde ein Airbag mit einem Produktionsfehler verbaut, erhalten die Käufer hierzu eine Mitteilung, fahren zu ihrem Händler und das Problem wird behoben. Ähnliche Situationen gibt es auch in der Luftfahrt. Auch hier sind teils Reparaturen nötig oder eben Inspektion nach einer gewissen Anzahl von Flugstunden.

Lion Air Boeing 737

Ein möglicher Streitpunkt könnte aber sein, wer überhaupt dafür Sorge tragen musste, über solche Updates oder sicherheitsrelevanten Themen zu informieren. Ist es die Pflicht des Herstellers, die Kunden über Updates zu informieren? Oder ist es die Pflicht des Kunden, sich über Updates für sein Produkt zu informieren? Hier dürften die Anwälte zu allen Mitteln greifen, um argumentieren zu können, dass Boeing alles oder eben nicht alles dafür getan hat, die Flugzeuge auf einem aktuellen sicheren Stand zu halten.

Findet man die “smoking gun”?

Besonders Dokumente, Nachrichten, Berichte und Memos dürften die Anwälte der Airlines dabei besonders unter die Lupe nehmen. Immer auf der Suche nach dem, was man im amerikanischen Rechtssprachgebrauch gern mit “smoking gun” bezeichnet. Dahinter steckt im Prinzip nichts anderes als ein handfester Beweis. Im besten Fall für die Anwälte der Airlines ist das ein Dokument, aus dem deutlich hervorgeht, dass Boeing von der Gefährlichkeit des Systems wusste und diese Information bewusst zurückgehalten hat.

Ein solches Dokument zu finden, ist aber gerade in der heutigen Zeit alles andere als einfach und tatsächlich auch eher unwahrscheinlich. Dank digitaler Nachrichten lassen sich solche Mitteilungen schneller vernichten als sie entstanden sind. Trotz der Unwahrscheinlichkeit ist es zumindest nicht gänzlich ausgeschlossen, dass man ein solches Dokument findet. Wäre das der Fall, würde das noch einmal ganz andere rechtliche Ausmaße annehmen und Verantwortliche von Boeing müssten sich in Strafprozessen verantworten, an die sich unter Umständen Gefängnisstrafen anschließen könnten. Und auch mögliche Ausgleichszahlungen an Airlines würden wegen eines strafenden Charakters noch einmal deutlich höher ausfallen.

Dass das im Falle der Boeing 737 MAX passiert, hält aber auch Dedmon für sehr unwahrscheinlich. Stattdessen werden sich die Airlines darauf berufen, ein mangelhaftes Produkt erhalten zu haben, das Boeing nicht rechtzeitig ausgebessert hat. Hierdurch haben die Airlines einen wirtschaftlichen Schaden erlitten, den sie von Boeing ersetzt haben möchten.

Was kann Boeing bei einem Prozess tun?

Inwieweit Boeing in einem Prozess hiergegen halten wird, ist wegen der neuerlichen Entwicklungen fraglich. Ging man anfangs noch davon aus, Boeing könnte versuchen, die Verantwortung von sich zu weisen, indem man etwa sagt, dass die Software, die das MCAS steuert, von einem anderen Unternehmen programmiert wurde, räumte der Flugzeugbauer Anfang April ein, die volle Verantwortung für die Abstürze zu übernehmen.

Das muss aber nicht bedeuten, dass Boeing auch die Forderungen von Ausgleichszahlungen einfach so akzeptiert. Hiergegen könnte das Unternehmen etwa anführen, Airlines frühzeitig über Updates oder mögliche Gefahren informiert zu haben. Daraus ließe sich argumentieren, dass Boeing damit alles in seiner Macht stehende getan hat, um die Flugzeuge auf aktuellem Sicherheitstand zu belassen.

Garuda Indonesia 737
Garuda Indonesia hatte bereits um Stornierung der bestehenden Bestellungen gebeten

Möglich erscheint aber auch, dass Boeing an anderer Stelle ansetzt. So entschieden einige Fluggesellschaften nach den Abstürzen selbst, die Boeing 737 MAX nicht mehr einzusetzen. Das Grounden einer Maschine ist dabei erst einmal eine rein unternehmensinterne Entscheidung, deren finanzielle Folgen dann auch die Airline selbst zu tragen hätte. Für alle Airlines, die ihre Flugzeuge erst auf Anordnung einer Regierung gegroundet haben, könnte Boeing auf diese verweisen.

Dedmon merkt dazu noch an, das Boeing auch selbst gegen Airlines vorgehen könnte, die nun Bestellungen der 737 MAX stornieren wollen. Schließlich ließen sich Verträge nicht einfach so widerrufen, wenn es sich um ein (nach dem Update) sicheres Flugzeug handle. Hier verweist der Luftfahrtrechler aber auf die Verträge zwischen Airline und Boeing. Solche Fälle sind in der Regel individuell vereinbart.

Finanzielle Auswirkungen können noch nicht eingeschätzt werden

Über die Höhe der möglichen Ausgleichskosten für Airlines lässt sich wie bereits angemerkt derzeit noch nichts sagen. Durch die Übernahme der Verantwortung seitens Boeing erscheint es zwar mittlerweile unwahrscheinlich, dass Boeing sich gänzlich aus der Verpflichtung zum Leisten von Ausgleichszahlungen herauswinden kann. Wir müssen allerdings abwarten, welche Erkenntnisse die Ermittlungen zu den Abstürzen noch zu Tage bringen.

Boeing drohen weitere Prozesse durch Opfer-Angehörige

Noch bevor solche Prozesse allerdings relevant werden, könnten Boeing erst einmal andere Prozesse bevorstehen. Die Rede ist hier von Klagen wegen unrechtmäßigen Todes, die von Angehörigen der Opfer der beiden Flugzeugabstürze erhoben werden. Die erste dieser Klage ist auch schon angekündigt und soll am kommenden Donnerstag in Chicago eingereicht werden. Auch hier drohen Boeing empfindliche Strafen, wenn den Angehörigen Recht gegeben wird. Solang die Schuldfrage zwischen Boeing und Lion Air bzw. Ethiopian Airlines nicht abschließend geklärt ist, dürften in diesen Prozessen übrigens Boeing und Airline und der gleichen Seite des Gerichtssaals sitzen – nämlich auf der Anklagebank.

Fazit zu den drohenden rechtlichen Auseinandersetzungen

Insbesondere die Übernahme der Verantwortung für die Flugzeugabstürze könnten einige als Schuldanerkenntnis seitens Boeing sehen. Das dürfte noch einige Angehörige mehr dazu veranlassen, rechtlich gegen Boeing vorzugehen, sobald sie ihre Trauer einigermaßen bewältigt haben. Gemeinsam mit den drohenden Prozessen gegen Airlines steht Boeing damit wohl eine wahre Klagewelle und ein Prozessmarathon bevor. Wie die einzelnen Prozesse am Ende ausgehen werden, müssen wir abwarten. Schließlich spielen hier einige Komponenten eine Rolle, von denen einige vielleicht noch gar nicht bekannt sind.

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