Bekanntlich gibt es zwischen Europa und den USA beim Trinkgeld große Unterschiede: Doch auf beiden Seiten des Atlantiks zeigt sich eine bedenkliche Entwicklung hin zu immer mehr Trinkgeld.
Egal in welchen Reiseführer aus welchem Jahrzehnt man blickt: Fast überall steht der Hinweis, dass deutsche Reisende darauf achten sollten, in den USA an Trinkgeld zu denken. Anders als in Deutschland gibt man dort nämlich seit jeher für jegliche Service-Dienstleistungen Trinkgeld – egal ob für den Concierge im Hotel oder den Kellner im Restaurant. Doch was früher noch eine nette Beigabe zu den Ausgaben war, nimmt immer verrücktere Züge an. Der Trinkgeld-Wahn scheint gleichzeitig auch immer mehr nach Europa überzuschwappen.
25 Prozent sind die neuen 15 Prozent
Blickt man auf diverse Artikel, die sich mit dem Thema Trinkgeld in den USA beschäftigen, nimmt man dieser Tage eine spannende Entwicklung wahr: Der Wert von 20 Prozent Trinkgeld gilt mittlerweile eher als Unter- statt Obergrenze. Das klingt aus europäischer Sicht ein wenig verrückt, ist aber auch in der Praxis mittlerweile gang und gäbe. Wer in den letzten Monaten in den USA war, dürfte das auch mit Blick auf die vorgedruckten Empfehlungen auf Rechnungen oder auch an Kreditkartenterminals gesehen haben: Empfohlen werden mittlerweile oft 20, 23 oder 25 Prozent – teilweise auch 30 Prozent – Trinkgeld.
War es früher noch normal, dass man je nach Level des Service zwischen 10 und 20 Prozent gab und 15 Prozent so etwas wie die Regel für soliden bis guten Service waren, sind es heute gute 10 Prozentpunkte mehr. Wer also beispielsweise für 100 US-Dollar essen geht, der sollte damit rechnen, noch einmal 25 statt bislang 15 US-Dollar obendrauf zu legen. Hintergrund, so heißt es von Gastronomiebetrieben in den USA, seien der Personalmangel und die Folgen der Corona-Krise. Ohne dies zu werten, steht sicherlich außer Frage, dass sich auch in den USA immer mehr Restaurants schwertun, überhaupt noch Mitarbeiter zu finden.
Trinkgeld für die Zahlung am Automaten
Allerdings geht es noch viel schlimmer, denn parallel hat sich in den letzten Jahren der Trend entwickelt, dass der Trinkgeld-Wahn auf immer mehr Bereiche ausgeweitet wird. Uber war etwa einst mit dem Versprechen gestartet, dass Trinkgelder bereits im Preis enthalten wären. Damit ist es länger vorbei und auch beim Schnellrestaurant wird mittlerweile mehr oder weniger dasselbe Trinkgeld erwartet wie im Restaurant. Besonders kurios: Immer öfter wird schon nach Trinkgeld gefragt, bevor der Service überhaupt erbracht wurde, was das System eigentlich auf den Kopf stellt.
Doch auch das ist im Verhältnis zu neuesten Errungenschaften der Industrie noch nichts: Der Vielflieger-Blog OMAAT berichtete kürzlich über sogenannte ‘Self Check-Out Kiosks’, an denen nach Trinkgeld gefragt wird. Heißt konkret: Man gibt einer Maschine Trinkgeld, obwohl man selbst den “Service” erbracht hat, den Artikel aus dem Regal zu nehmen und an der Kasse zu scannen. Ähnliche Erfahrungen konnte ich bei meiner letzten Reise in die USA ebenfalls machen – üblich sind Trinkgelder mittlerweile wirklich an jeder Ecke. Selbst dann, wenn man sich beispielsweise eine Strandliege mietet, die ohne jeglichen Service daherkommt.
Trinkgeld-Wahn kommt immer mehr in Europa an
Doch es ist auch beim Trinkgeld so wie bei so vielen Dingen: Der Trend schwappt nach und nach auch nach Europa über. Auf dem “alten Kontinent” gibt man seit jeher weniger Trinkgeld, was primär daran liegt, dass Mitarbeiter von ihren Arbeitgebern im Verhältnis viel höhere Löhne und eine Absicherung im Sinne von Sozialversicherungen erhalten. Zwar gibt es auch in Europa Unterschiede bei der Trinkgeld-Mentalität, aber durch die Bank sind signifikant niedrigere Trinkgelder als in den USA die Regel. Je nach Region und Leistung gelten Trinkgelder zwischen 5 und 10 Prozent der jeweiligen Summe als Norm.
Wer zuletzt öfter einkaufen war und hierbei auch öfter mit der Karte am Zahlungsterminal bezahlt hat, dürfte bemerkt haben, dass immer öfter erst eine Trinkgeldauswahl getroffen werden muss, ehe man bezahlen kann. Psychologisch unangenehm müssen Kunden dabei vor den Augen des Mitarbeiters und potenziell anderer Kunden selbstständig auf ‘No Tip’ drücken, sofern sie kein Trinkgeld geben möchte. Besonders weit vorne dabei ist hier der Anbieter Verifone, der – sicherlich wenig überraschend – aus den USA kommt und seine “Trinkgeld-Terminals” verstärkt auch in Europa auf den Markt bringt.
Natürlich ist Verifone mit dieser Strategie nicht allein, aber der Trend bereitet Sorgen, denn mittlerweile wird man an immer mehr Stellen proaktiv und mit einem gewissen Druck nach Trinkgeld gefragt. Leider wird auch das nur der Anfang sein, denn dass gerade bei Kartenzahlungen zukünftig die Terminals von sich aus einen Vorschlag machen, welches Trinkgeld “angemessen” ist, dürfte bald zur Regel werden. Immerhin dürften die Tests in den USA gezeigt haben, dass die Kunden so mehr Trinkgeld geben – schon des psychologischen Drucks wegen.
Höheres Trinkgeld dürfte auch in Europa die Norm werden
Es steht außer Frage, dass Trinkgelder nicht immer fair sind – selbst bei sehr guten Leistungen wird gerade in Deutschland teilweise nicht allzu viel Trinkgeld angeboten. Ohne Frage ist es gerade in der Gastronomie mit Blick auf die harte Arbeit und die verhältnismäßig geringen Löhne auch sehr wichtig, dass Trinkgeld als zusätzliche Leistung für viele Mitarbeiter wichtig ist. Doch die Frage ist dennoch, ob die deutlich höheren Trinkgelder aus den USA auch bald in Europa zur Norm werden? Die Antworten liegt sicher irgendwo dazwischen, denn so hoch wie in den USA werden die Trinkgelder schon wegen der kulturellen und auch arbeitsrechtlichen Unterschiede wohl nicht werden.
Doch deutlich höher dürften die Trinkgelder auch in Europa in den nächsten Jahren werden. Zum einen wegen des amerikanischen Einflusses und zum anderen durch die smarten Techniken der Betreiber von Kartenterminals. Wer also in Zukunft im Restaurant ist, dürfte feststellen, dass auch in Europa bald 15 Prozent das neue 5 Prozent sind. Und irgendwann dürfen auch wir uns sicherlich über Selbstzahlerkassen freuen, die nach Trinkgeld fragen – immerhin hat ja auch jemand die Kasse aufgestellt und kümmert sich um deren Betrieb.